Werkbuch «Die Schneiderin»

1. Basis

Die häufigste mir gestellte Frage ist: Wie kommen Sie nur auf die Ideen? Auf diese einfache Frage habe ich ausführliche Antworten – und alle leuchten sie mit einer Taschenlampe in einen dunklen Wald. Eine einfache Antwort habe ich nicht. Auch meine Kollegenschaft nicht. Und auch nicht die Wissenschaft. Es ist komplexer als die Wettervorhersage. Sie kennen das Phänomen der Schmetterlingsflügel, die einen Tornado auslösen können? Eine Idee mag zwar «plötzlich» aufblitzen, doch sie hat immer einen langen Vorlauf. Ich kann nicht sagen, wie eine Idee entsteht – ich kann nur beschreiben, wie ich «das Feld bearbeite», um sie zu er­möglichen. Eine Bäuerin würde vom Fruchtbarmachen der Erde reden – eine Künstlerin vom Entstehungsprozess. Die Stück­erfinder sitzen stunden- und wochenlang zusammen und reden, suchen, fantasieren, verwerfen, fügen ineinander, bis irgend­wann ein Ganzes entsteht. Erde können wir in die Hand nehmen, daran riechen, aber Kopfarbeit ist flüchtig und nicht zu fassen. Doch eine Art Dokumentation der Entstehung lässt sich nachlesen. Ich mache mir während der Arbeit viele Notizen. Das hilft mir, in der Wirrnis klare Linien auszumachen, mich im Vielen an Einzelnes zu erinnern oder verworfene Ideen nochmals auf ihre Verwendbarkeit abzutasten.

Im Jahr 2021 ist der vierzigjährige Geburtstag meiner Clownfigur Hanna. Ich bin in diesen vergangenen Jahren so reich vom Publikum beschenkt worden, dass ich ein Geschenk zurückgeben möchte: Ich mache mein ganzes Material aus der Produktion «Die Schneiderin» – Protokolle, Fassungen, Fotos und Videos – ­öffentlich zugänglich. In meinen Anfängen als Studentin und Künstlerin hätte ich mir ein solches Werkbuch gewünscht. Es hätte einige Krisen abkürzen können. Ich weiss nicht, wie viele Biografien von grossen Komikern ich zerlesen habe, weil ich wissen wollte, wie sie arbeiten, wie sie ihre Szenen erfinden. Doch sie beschreiben nur, mit wem sie sich getroffen und welche gesellschaftliche Wichtigkeit sie hatten. Heute verstehe ich die Auslassung besser: Es ist unmöglich, kreative Prozesse stringent zu beschreiben.

Erst wollte ich meine Produktionsprotokolle chronologisch und kommentarlos aneinanderreihen. Lese ich diese Protokolle wieder, tun sich Erinnerungen auf, ich sehe ganze Szenen vor mir. Ich erinnere mich an das Gefühl von Verlorenheit und an die grosse Leere, in die hinein ich erste Ideen ausformuliere. Doch unbeteiligte Leserinnen und Leser stehen vor einem Blatt mit Hieroglyphen. Die Notizen sind für sie schwer zu entziffern, da die anfänglichen Ideen meist nur Gedankenblitze sind, Auslöser von Assoziationen.

Wie beim Stein, der ins Wasser geworfen wird, geht es nicht um den Stein, sondern um die Wellenkreise, die er bewirkt. Die Gedankenfetzen sind so zu lesen. Was lösen sie an Gefühlen, Bildern, Erinnerungen, an Assoziationsketten aus? Sie sind nur in ihrer Wirkung verständlich. Sie sind Geländer im leeren Raum.

Die Protokolle sind ungekürzt und voller Wiederholungen. Das immer wieder Gleiche ist von zentraler Bedeutung, um voll und ganz in einen Stoff einzutauchen. Das ist das Schöne und das Schwierige: Aus diesem täglichen Sumpf blubbern ab und zu neue Ideen auf. Wenn ich die Protokolle kürze oder eine Auswahl treffe, dann bin ich schon zielgerichtet. Erst im Nachhinein las­sen sich die Schritte aufzeigen, die zu einer Idee geführt haben. Stehe ich im Prozess, weiss ich nicht, wohin eine Überlegung führt, ob in eine Sackgasse oder in eine grosse Szene. Ein kreativer Prozess ist widersprüchlich, eigenwillig und zieloffen.

Um diese kreativen Prozesse verständlicher zu machen, habe ich erklärende Texte zu den einzelnen Schritten verfasst. Sie sollen den «roten Faden» sichtbar machen, der durch Protokolle, Fassungen und Videos der Produktion «Die Schneiderin» führt. Anhand dieses «Leitfadens» lässt sich ansatzweise nachvollziehen und miterleben, wie ein Stück entsteht. Wie viele «Fä­den» aus der Schneiderwerkstatt doch in die Sprache gefunden haben …

Inspiration

2007 entschliesse ich mich, ein neues Stück zu produzieren, und ent­scheide mich für eine seit Jahren in mir gärende Grundidee:

DIE NÄRRIN UND DER TOD

Spannend wäre es, aufzuzeigen, woher diese Idee kommt. Aber Grundideen entstehen bei mir immer über Jahre: Sie sind gedankliches Schwemmholz, das anlandet, eine Zeit lang liegen bleibt und wieder abtreibt – je nach Lebensströmung und Wasserstand. Sie tauchen in vielen Gesprächen mit Freunden auf, in denen wir uns über Verrücktes und Absurdes amüsieren: «Man könn­te doch einmal das und dieses machen, und dann würde jenes passieren.» Wir witzeln, übertreiben, lachen und vergessen es wieder. Aber einzelne Ideen kommen immer wieder hoch. Ich schreibe sie auf, damit ich sie loslassen kann. Einige sind so hartnäckig, dass ich sie, nur um der schönen Vorstellung willen, ausarbeite. Die meisten Bilderstürme versanden. Doch plötzlich steht eine Idee gross vor mir und fordert mich heraus. Ich versuche ein mögliches Szenario auszuarbeiten, um zu prüfen, ob sie Gehalt haben könnte.


Skizzen


Hier meine ersten Notizen:

Die Clownin entweicht dem Tod mit schlauem Witz. Überlistet ihn. Springt ihm von der Schippe. Hat Galgenhumor.

Sie ist eine Art Scheherazade, die, um am Leben zu bleiben, nicht Geschichten erzählt, sondern Clownnummern spielt.
Dann entwickle ich mögliche Spielmechanismen:
Die Stunde der Clownin hat geschlagen. Der Tod steht vor ihr.
Clownin: Moment, ich komme gleich. Nur noch …
Sie erfindet alles Mögliche, um Zeit zu schinden, und zieht die kleinste Idee in schiere Länge. Der Tod nervt sich, will sie endlich packen. Doch sie hat schon eine neue Idee:


Wenn der Tod stirbt, leben alle Menschen und alle Lebewesen für ewig, und die Erde platzt aus ihren Nähten. Und wenn kein Tier und keine Pflanze mehr stirbt, dann verhungern alle – können nicht sterben und haben ewigen Hunger …


Ich «spüre», dass diese Ideen genügend Stoff für ein abendfüllendes Programm hergeben und nicht schon nach zehn Minuten ausgelaugt sind.

Ich stehe zwar allein auf der Bühne, doch ich kreiere im Team. Um aus Ideen ein Theaterstück zu machen, brauche ich Regie und Co-Autorenschaft. 2008 frage ich Michael Vogel an, ob er interessiert wäre, Regie zu führen. Michael ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter der Theatertruppe Familie Flöz. Die Truppe spielt mit Masken (die den ganzen Kopf bedecken) und schreibt, inszeniert, produziert im Team. Ohne uns zu kennen, entdecken wir in unseren Kreationen einige Parallelen: «Teatro Delusio» und «Die Souffleuse» – die Bühne ist gedreht, der ­Zuschauer sieht die «Unsichtbaren» auf der Hinter- oder Unterbühne. Auch der Tod ist bei Flöz ein ständiger Gast, in «Infinita» und «Himmelerde». Die Truppe kommt ebenfalls ohne Worte aus und versucht, aus schweren Themen leichte, frohe Theaterabende zu machen.

Ich kenne Michael nicht wirklich. Ich habe aber mit ihm vor ein paar Jahren, als ich im Theater der Bremer Shakespeare Com­pany «Die Souffleuse» spielte und er dort Shakespeares «Wintermärchen» inszenierte, lange Gespräche in der Theaterkneipe geführt. Ich spürte klar: Da ist ein Gleichgesinnter. Ein «Gleichgesinnlichter». Dass ich ihn, vier Jahre später, als Regisseur anfrage, ist ein Schritt ins Unbekannte und reine Intuition.

Michael hat grosses Interesse.

Ich fahre nach Berlin und erzähle ihm von meiner Grundidee. Er hat immer noch Interesse – für mich die erste Bestä­tigung, dass die Grundidee funktionieren könnte. Er sagt zu!

Wir vereinbaren für 2009 und 2010 zwei grosse Probeblöcke und setzen die Premiere auf den 20. Oktober 2010 an. Diese symmetrischen Zahlen – 20.10.2010 – sollen uns Glück für unser Abenteuer bringen, denn in der noch leeren Agenda sehen die Ein­träge sehr mutig aus. Gar übermütig. Wir planen vier Wochen für die gemeinsame Autorenarbeit am Stück und acht Wochen für die Proben ein. Ich verspreche ein ausgearbeitetes Grundkonzept zu Probebeginn.

Diese Abmachungen verändern alles. Mit dieser Planung wandelt sich eine vage Idee in ein konkretes Projekt. Eine Produktion beginnt. Ich denke und schreibe ab jetzt gerichtet. Auf ein Ziel hin.

Grundidee. Grundkonzept. Das klingt nach Papier. Dünn. Linear.

Ich muss Fülle finden. Weite. Tiefe. Horizonte.


Inspirationen

Grundidee Probenbeginn


Hintergrund 

Ich fahre für zwei Wochen an die Ostsee. Mit Gerda Baumbach und einem Koffer voller Bücher, die ich mir aus ihren überbordenden Bücherwänden auswählen durfte. Seit Jahren pflegen wir einen regen Austausch. Sie ist Professorin am Theaterinstitut der Universität Leipzig und forscht mit Spezialgebiet Schauspiel, Stile und Theaterpraktiken der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Akteure – also über das Theater, aus dem sich unser Theater entwickelt hat. Sie ist Autorin und Herausgeberin einer langen Reihe von Büchern zum Thema und vertritt die von ihr mitbegründete theaterhistoriografische Methode der Leipziger Schule, die mit Rudolf Münz seinen Anfang nahm – und ständig weiterentwickelt wird.


Texte zum und über das Stück


Wir gehen stundenlang am Strand und geniessen die Weite. Und reden viel. Manchmal auch über uns, aber meistens übers Stück und dessen mögliche Anbindungen. Wir tasten innere und äussere Horizonte ab.

Was fasziniert uns aneinander? Uns interessiert dasselbe, wir haben die gleiche Passion. Sie als Theoretikerin, ich als Praktikerin.

Theoretiker sind die mit den vielen Fussnoten.

Praktiker sind die mit den vielen Halbwahrheiten.

Sobald Wissenschaftler etwas betrachten, wird es kompliziert, komplex, und überhaupt «ist alles nicht so einfach». Betrachten es Praktiker, schliessen sie die Augen und erspüren, was sie durchströmt. Wenn die Kanäle bei beiden offen bleiben, können im Austausch überraschende Ansichten gewonnen werden.

Nehmen wir ein harmloses Beispiel aus der Biologie: die Hagebuche. Sie gehört zur Gattung der Hainbuchen (Carpinus), zur Unterfamilie der Haselnussgewächse (Coryloideae), zur Familie der Birkengewächse (Betulaceae), zur Ordnung der Buchen­artigen (Fagales). Weiter sind sie Eurosiden, Eukaryoten und schliesslich Lebewesen – ihr wissenschaftlicher Name ist Carpinus betulus. Mir schwirrt der Kopf.

Mich interessiert die Hagebuche, weil sich davon das alte Wort hagebüchen (derb, grob, klotzig, knorriges Holz) und dar­aus hanebüchen (haarsträubend, skandalös, unverschämt, ungeheuerlich) ableitet und weil ich erstaunt bin, dass dieses altmodisch schöne Wort in unserer Sprache noch vorkommt. Und dann denke ich an die Hexe Hagazusa, die über den Hag, die Hecke, springt, was in alten Sagen bedeutet, dass sie von einer Welt in eine andere, meist die Totenwelt, gehen kann. Und dass dieser Hag wohl eine Hagebuche war. Dass also diese Buche schon früh als Hecke gepflanzt wurde, Hagazusa aber in Wikipedia noch nicht vorkommt, ausser als «Erfindung» in der alemannischen Fasnacht. Dabei ist sie eine wichtige Figur in vielen Sagen.

Und dann höre ich das Wort «Buchstabe»: Buch und Stab. Ist es vielleicht ein Buchenast, in den die Kelten Zeichen einritzten? Sind diese Kerben der Ursprung von Buchstaben? Sie merken, ich reime mir Dinge zusammen und würde jetzt gerne die Wissenschaftler fragen, ob das stimmt. Oder ob es sich nur schön anhört?

Über den Baum bin ich gestolpert, weil ich mit italienischen Freunden im Wald voller Hagebuchen spazieren ging und sie behaupteten, der Carpino betulus (Hagebuche auf Italienisch) sei eine Birke. Ich behauptete, er sei eine Buche. Die Wahrheit ist, einfach ausgedrückt: Die Buche ist eine Birke, die zu den Buchen gehört.

Sie sehen, das mit den Bäumen ist kompliziert.

Und das mit den Stammbäumen ist noch komplizierter. Ich habe vor vielen Jahren die Wissenschaftlerin Baumbach gebeten, einen Stammbaum meiner komischen Vorfahren zusammenzu­tragen. Wer kommt zuerst: Harlekin, Clown, Hanswurst, Buffone, August, Narr – oder welch anderer komischer Vogel?

Doch die Vorstellung und die Struktur eines Baums passen nicht, denn die vielen Einflüsse bilden ein wildes Knäuel. Die Berufsschauspieler reisten schon vor Jahrhunderten viel, und jeder hat von jedem gute Spielideen kopiert und übernommen. Ein gegenseitiges Befruchten. Klauen war anerkannte Methode.

Und heute? Wer bestimmt die Ordnung, Gattung, Familie, Unterfamilie im Theater? Welche Einflüsse und Gesetze lassen sich in dieser von Emotionen geprägten Welt erkennen? Weil ve­rschiedene Theaterwissenschaftler unterschiedliche Schlüsse ziehen, existieren sich widersprechende Schulen. Vereinfacht: Die Leipziger Schule erklärt das «archaische Volksfest» als Quelle ­des Theaters. Es ist interessant, einer Theaterwissenschaftlerin zuzuhören: Sie kennt unzählige Einzelheiten, ohne den Über­blick zu verlieren. Ich erkenne, dass mir in der Schauspielakademie in den 1970er-Jahren eine bereits überholte Theatergeschichte gelehrt wurde.

Umgekehrt, was kann eine Theaterwissenschaftlerin an einer Clownin interessieren?

Sie fragt oft: «Woher weisst du das?», und ist überrascht über meine simplen Beschreibungen komplexer Vorgänge. Ich weiss darüber nicht aus Büchern, sondern aus dem Spiel. Spielend erschliesst sich mir, was eine Figur ist, eine Maske, ein berührender Stoff, eine tragisch-komische Szene etc.

Die Wissenschaft stellt Ordnung her: rational, logisch, distanziert. Das Spiel ist irrational, mit der Logik nicht zu greifen, aus der Distanz nicht zu knacken: Ich muss mitten hinein. Ich muss mich einlassen. Dennoch hat es seine Gesetzmässigkeiten. Ob ein Schauspieler im 16. Jahrhundert für seine Figur eine Szene erfindet oder eine Clownin heute: Es ist das gleiche Spiel. Es ändern sich die Inhalte der Geschichten, die Leute zum Lachen bringen. Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht sind es noch immer die gleichen Geschichten über menschliche Unzulänglichkeiten. Es ändert sich nur der Stil. Und vielleicht nicht einmal das: Der Spielstil ist immer ähnlich. Es ändern sich konkrete Äusserlichkeiten: Kostüme, Sprache, Verpackung. Es ändern sich die Moden.

Der Arbeitstitel meines Stücks lautet «Die Närrin und der Tod». Und schon beginnen die Schwierigkeiten: Die Theaterwissenschaftlerin meint, «Närrin» sei theaterhistorisch gesehen zu spezifisch und daher nicht die richtige Bezeichnung. «Komikerin» darf auch nicht sein, weil «i comici» im 16. Jahrhundert die all­gemeine Bezeichnung für Berufsschauspieler war. Mit unserem heutigen Verständnis von Komik hat der Begriff nichts zu tun. Ich müsste «Schauspielerin» wählen, weil ein Clown mit dem ursprünglichen Schauspieler mehr gemein hat als ein Schauspieler des Stadttheaters, der, theaterhistorisch korrekt, als «Darsteller» oder «Interpret» bezeichnet werden müsste. In vielen Rollenbüchern heisst es heute noch: die Personen und ihre Darsteller. Aber wenn ich das Stück «Die Schauspielerin und der Tod» nenne, dann löst der Titel nicht die von mir beabsichtigte Emotion aus. Sprache besitzt neben einer inhaltlich korrekten auch eine assoziativ-emotionale Bedeutung. Eine «Närrin» lässt lächeln, eine «Schauspielerin» nachdenken.

Was aber theaterhistorisch korrekt ist: Der Tod und das Lachen haben viel miteinander zu tun. Das Theater ist voll früh­erer Leitlinien, die bis heute ihre Wirkung haben. Um anschaulich zu machen, um was es geht, notiere ich ein paar Stichworte aus meinen Heften. Die Themen sind gross und komplex. Ich verstehe sie nur teilweise und könnte sie nicht schlüs­sig zusammenfassen. Aber sie sind wunderbare Inspirationen. Sie entfalten einen Sternen­himmel über der kargen Grundidee. Ein paar Beispiele aus meinem Notizheft:

Das sind Lichtpunkte, Assoziationsketten. Kein vertieftes Verstehen. Um mir aus allem Gehörten einen Reim zu machen und mich nicht im Uferlosen zu verlieren, schreibe ich eine möglichst knappe Clownhistorie. Es ist kein wissenschaftlicher Text, aber ­er ist wissenschaftlich auch nicht falsch. Er ist einfach nur einfach.

Ich füge diese Art Essay über das Wesen der Clowns ein, um die Logik meines Denkens und Suchens verständlicher zu machen.

Clowns – Ein Essay

Clown, Buffone, Zanni, Harlekin, Kasper, Hanswurst, Fool … viele Namen, die das gleiche Grundprinzip beschreiben: dem Schrecklichen ins Gesicht zu lachen.

In ethnologischen Museen rund um die Welt sehen wir die ersten von Menschenhand geschaffenen Kunstwerke – heute glücklicherweise nicht mehr «Primitive Kunst», sondern «Premier Art» genannt.

Es sind Masken, Statuetten, Trommeln und symbolische Gegenstände, die in Ritualen rund um den Tod gebraucht wurden. Sie sehen oft zum Fürchten aus – als wollten sie eine Gefahr bannen. Ihnen wohnt eine beschwörende Kraft inne, die noch heute wirkt.

Die grösste Herausforderung für die Menschen ist der Tod. Sie können ihn nicht besiegen – nur hinauszögern. Die Menschen können an ihrer Endlichkeit nichts ändern. Aber sie können ihren Schmerz lindern, indem sie sagen: Der Tote ist nicht tot, er macht nur eine Reise in eine andere Welt. Für die Toten, zu denen man bald auch gehören wird, werden andere Welten erfunden: Unterwelt, Paradies, Himmel, ewige Jagdgründe, Garten Eden, Mutterleib Erde …

Ins Grab gelegte Hirsekörner und Schutzamulette bis hin zum Bau gigantischer Pyramiden sollen den Toten helfen, sich in dieser anderen Welt zurechtzufinden.

Und wo ein Begräbnis ist, ist auch ein Fest. Trauern kippt ins Feiern: Das Leben übernimmt wieder.


Clown & Co. entwickelten sich aus dem ARCHAISCHEN FEST, das weltweit in frühen Agrargesellschaften entstanden ist. Es gab unzählige Formen dieser Feste, aber immer drehten sie sich um die Zyklen der Natur: Geburt / Tod, Sommer / Winter, Tag / Nacht, Fruchtbarkeit / Verfall, Erschaffen / Zerstören, Schmerz / Rausch.

In diesen Festen hatten auch die Toten – die nie völlig verschwanden, sondern nur in einer anderen Welt lebten – ihren Platz. Noch heute erzählen Fasnacht, Karneval, Silvester, Halloween davon – und in weit verwandter Art auch Karfreitag und Ostern.

Am lebendigsten hat sich dieses Festprinzip in Mexiko erhalten: der DíA DE LOS MUERTOS ist ein fröhliches Volk­sfest und wird auf den Gräbern gefeiert – mit Totenköpfen aus Zuckerguss.

Als Kind fürchtete ich die holzigen Fasnachtsmasken der WILDEN WEIBER – doch ihr verrücktes Treiben brachte mich zum Lachen.

Urahnen von Clown und Buffone waren die SPIEL­LEITER im archaischen Fest. Sie konnten zwischen den Welten hin- und hergehen, die Toten herholen – und sie auch wieder vertreiben.

Auf der ganzen Welt gab es ähnliche Figuren dieser GROTESKEN LEIBER, die mit lauten und oft vulgären Bewegungen den Tod auf die Schippe nahmen. Sie waren zum Fürchten – und zum Lachen. Gruseln und Lachen minderten die Angst und halfen, mit dem Unabänderlichen in Frieden zu kommen.

Clown & Co. waren existenzielle Spieler: Es ging um Leben und Tod. Erst das Nicht-mehr-Dasein einer Person machte es nötig, über sie zu erzählen. Erzählungen hielten die Toten lebendig. «Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.» (Walter Benjamin)


Im Laufe der Zeit werden diese populären FESTFIGUREN von professionellen Schauspielern zu THEATERFIGUREN weiterentwickelt, und anlässlich von Festen auf öffentlichen Plätzen und in Schaubuden vorgeführt. Ein bekanntes Beispiel ist die COMMEDIA DELL’ARTE. Aus dem uralten HELLEQUIN (keltischer Totengott, Anführer des WILDEN HEERES: Tote, die über das Land ziehen und die Lebenden erschrecken) wird ein neuzeitlicher HARLEQUIN/ARLECCHINO. Viele alte CANOVACCI (Szenenvorlagen) bezeugen Jenseitsreisen: Unterwelt, Mond, Hölle.

Anderes, jüngeres Beispiel: Vor 230 Jahren fand der Clown erstmals seine Rolle im Zirkus. Neben atemberau­benden Dressur- und Artistiknummern muss der tollpatschige Unperfekte für entspannendes Lachen sorgen. Der Zirku­s­clown ist aber nur ein weiteres Kostüm, das sich die komische Grund­figur übergestülpt hat. Seine klassische Schminke erinnert noch vage an den Totenkopf.

Im Laufe der Zeit, durch viele Generationen von Schauspielern hindurch, haben sich unendliche Varianten von Figuren und Spielarten entwickelt. Meist haben diese Szenen nichts mehr mit dem Tod zu tun – das Spiel mit dem Tod ist nur die Ursprungsszene. Aber der Mechanismus ist der gleiche geblieben: Es wird das SCHEITERN zelebriert. Clown & Co. stolpern, zappeln, brabbeln, sie sind schwer von Begriff und läppisch gekleidet. Der Zuschau­er fühlt sich überlegen, lacht über ihn – und gleichzeitig über sich und das eigene Scheitern. Das entspannt.

IDEEN DESTILLIEREN

Wieder zu Hause, versuche ich, aus der Fülle spielbare Ideen zu destillieren. Ich meine, dass Künstlerinnen und Künstler nicht mehr als drei Grundthemen haben, in die sie lebenslänglich in im­mer neuen Variationen tiefer eindringen. Das Grundthema des Clowns ist das Scheitern – und das endgültige Scheitern ist der Tod. Ohne dies zu wissen, sind 1981 meine Figur Hanna und ihr erstes Theaterstück entstanden, in dem sie unausweichlich auf ihren Untergang zusteuert. Und es wird ihr zur Gewohnheit: In acht von neun Stücken ist Hanna am Schluss tot. Ein klares Ende. Ein sauberer Schluss.

«Nur das Unglück ist wirklich komisch.» (Samuel Beckett)

Um ein Stück zu kreieren, müssen Clowns eine Katastrophe finden. Eine grosse Katastrophe. Am besten die grösst­mögliche Katastrophe. Damit ich aber aus Worten Theater machen kann, brauche ich vor allem einen Spielmechanismus: ein Drama, das mir Handlungen ermöglicht. Ein Erdbeben, ein Mord, eine Wirtschaftskrise sind zwar grösstmögliche Katastrophen, aber sie ergeben noch kein Spiel. Es muss ein Konflikt da sein, ein Hin und Her, widerstreitende Gefühle, ein zugespitztes Problem mit vielen möglichen Auswegen – grosse Gegensätze ergeben erst eine Dynamik. Also, falls Erdbeben, dann während eines Inte­r­nationalen Wettkampfs im Kartenhausbauen. Oder im Seminar «Bombenbasteln für jedermann».

Dieser dramatische Spielmechanismus muss einfach und klar sein. Er muss in drei Sätzen erzählt werden können, und die Zuhörer müssen sofort verstehen – und schmunzeln. Ihr Schmunzeln zeigt an, dass sie nicht nur verstanden haben, sondern sich schon lustige Szenen vorstellen. Zum Einfachen zu gelangen, ist das Komplizierte. Kompliziert sein ist einfach. Wenn die Zuhörer überrascht und gleichzeitig überzeugt sind, dass sie selbst auch auf diese Idee hätten kommen können, dann ist sie wahrscheinlich gut. Wenn die Zuhörer nicht verstehen, um was es wirklich geht, die Idee aber «interessant» finden, dann muss noch daran gearbeitet werden.

Zur Veranschaulichung, hier die Spielmechanismen meiner vier «Hanna»-Solos:

  1. Eine Wäscherin, die von Heldentaten träumt, aber nur einen Haufen dreckiger Wäsche hat. Mangels Feinden verwandelt sie ihre Waschküche in ein Schlachtfeld und geht heldenhaft im Waschtrog unter.
  2. Durch ein Ofenfernrohr schmachtet eine arme Maus den runden Käse in der Mausefalle an, an der die Bilder ihrer darin ge­töteten Verwandten hängen. Die Maus findet einen Trick und erobert die Falle, ohne dass sie zuschnappt. Jetzt schaut sie träge Käse-TV – doch dann geht der Mond auf: So ein Käse!
  3. Eine Souffleuse wohnt unter der Bühne und erkennt die Schauspieler am Fussgeruch. Das Theater wird geschlossen, doch alle vergessen, die Souffleuse zu informieren. Als sie ihre Verlassenheit realisiert, ist sie zu dick, um aus dem Bühnenloch zu kommen.
  4. Der Tod will die Närrin holen. Sie sagt, sie komme gleich, nur noch die letzte Zigarette, die letzte Mahlzeit … Sie hält den Tod hin, bis dieser durchdreht.

Selten sind diese drei Sätze von Anfang an da (Ausnahme ist Stück 4). Meist sind sie das Resultat von wochenlangem Schreiben (Stück 3). Manchmal klären sie sich auch erst in den Proben (Stück 1 + 2).


Aus den vielen Ideen, die am Anfang noch in alle Richtungen gehen, muss eine Hauptidee bestimmt werden. Diese kreist im­mer um ein Thema, das mich persönlich sehr beschäftigt, das aber auch gesellschaftliche Relevanz hat. Der Inhalt muss in­teressieren und mit unserer Zeit zu tun haben. Es geht bei Clowns nicht um realistische Tagespolitik, eher um symbolische Lebenspolitik. Je kontroverser und heftiger ein Thema diskutiert wird, desto mehr Emotionen werden geweckt. Ein Theaterzuschauer lässt sich nur auf das Stück ein, wenn er emotional abgeholt wird. Das schliesst Poesie nicht aus, holt sie indes aus dem luftleeren Raum.

Um mir einen fruchtbaren Boden zu schaffen, lese ich weitschweifig um das Thema herum, Bücher und Zeitungen, schaue Filme und Dokumentationen, gehe in Museen und Ausstellungen, diskutiere mit Freunden und Kollegen – ich versuche, es einzukreisen. Ich will verstehen, was mich daran beschäftigt, interessiert, inspiriert oder abstösst. Ich schaue durch diesen Rahmen den Leuten auf der Strasse zu, lausche Gesprächen im Zug, höre Sprichwörter neu … und träume nachts davon. Ich sauge mich voll. Dieses Sich-Auffüllen schafft den Boden für die viel beschworene Intuition: Ideen tauchen auf, und ich weiss intuitiv, dass sie gut sind und Gehalt haben – oder eben nicht.

Als mir beispielsweise im Jahr 2007, nach einer mehrwöchigen Segelbootreise übers Meer, ein sieben Meter langes, zer­rissenes Segel geschenkt wird, weiss ich sofort, dass es das Bühnenbild für «Die Närrin und der Tod» sein wird: Sie macht ihre letzte Reise mit dem Segel. Während Wochen hing das Segel im Haus und auf der Probebühne – und wurde angestarrt. Es gab dann aber für eine Clownin zum Spielen nicht viel her. Wahrscheinlich wäre es für Tänzer einfacher gewesen? Und dennoch hat es unsere Vision getragen. Im fertigen Stück dauert die Szene mit einem nur noch zwei Meter grossen Segel etwa zwei Minuten – aber das ganze Stück geht zwingend darauf zu.

PLOT FINDEN

Am Anfang eines kreativen Prozesses stehen meist Bilder. Ich mache Zeichnungen. Vieles ist noch zu verschwommen, als dass ich es in Worte fassen könnte. Im Zeichnen ist es für mich einfacher, eine Idee zu variieren. Ich bin offener, schwebender, unvoreingenommener.

Ich versuche, mir Szenen vorzustellen. Mache Konzepte. Lese. Eine mir wichtige Quelle sind die Mythen aus aller Welt. Mythen sind Fundgruben kollektiver Bilder und ursprünglicher Vorstellungen. Ich staune, wie mich diese Geschichten emotional abholen, obwohl sie schon unzählige Generationen alt sind. Sie spiegeln die menschlichen Tiefenschichten. Sie zeigen, was früher war und was heute noch wirkt. Sie sind Archäologie der Ideen und Bilder. Moderne Bilder bauen auf alten auf. Nichts kommt je aus dem Nichts. Die Mythen entspringen unserer Natur – gestalten unsere Natur weiter. Und die hat sich nicht grundlegend verändert. Die drei Nornen, Moiren oder Parken (je nach Gegend) sind Schicksalsgöttinnen: Sie spinnen den Faden, messen ihn und durchtrennen ihn. Sie sind also eine Art Urahninnen der Schneiderin.

Würde ich mit zwei anderen komischen Frauen ein Stück machen, könnten wir steinalte, schusselige Schicksalsgöttinnen spielen, die ihre Schere verlegt haben und keine Fäden mehr durchtrennen können. Es sterben also keine Menschen, was die Überbevölkerung erklären könnte.

Auffallend in den Mythen ist, dass, je weiter wir zurückgehen, umso kraftvollere Frauenfiguren zu finden sind: Göttinnen mit vielen Namen – Kali, Hekate, Baubo, Inanna und ihre Schwester Ereshkigal, Isis, Gaia, Lilith etc. –, und immer haben sie mit «Leben geben und Leben nehmen» zu tun. Mit Fruchtbarkeit und Tod. Noch sind sie nicht durch das Patriarchat entmachtet und zu lieblichen, sexfreien Müttern geschrumpft. Sie sind in ihrer mythischen Widersprüchlichkeit: gut und böse, schöpfend und zer­störend, anmutig und furchterregend. In der mythischen Denkweise gehört das zusammen, als ein Sowohl-als-auch. In der rationalen Denkweise wird es zum Entweder-oder. Gott ist gut, der Teufel bös. Die Götterwelt wird männlich und das «teufli­sche Weib» als Hexe verbrannt. Für Hanna ein gefundenes Fressen.

Es ist nun nicht so, dass diese Bilder eins zu eins auf die Bühne gebracht werden können. Und auf keinen Fall dürfen sie erzählt oder erklärt werden. «Wir spüren die Absicht und sind verstimmt», sagte Tucholsky so treffend. Doch dieses ganze Wissen und Halbwissen ins Stück hineinzutragen, gibt ihm eine Art Unter- oder Überbau, gibt ihm Tiefe. Es schwingt mit. Die Stimmung ist mehr als die Szene.

Die Schneiderin ist nur eine Schneiderin. Ganz konkret. Sie erleidet ihren Tod – und spielt mit ihm. Als eine existenzielle Spielerin ist sie auch Sinnbild für Leben und Tod.

Wie variantenreich doch die Bilder sind, die Menschen erfunden haben, um sich darin selbst zu erkennen! Die Wissen­schaft holt vieles über den Logos ins Licht. Aber vieles verharrt im Dunkeln, bleibt Geheimnis: Warum leben und warum sterben wir? Mythen versuchen, über Erinnerungen, Emotionen und Assoziationen das Mysterium innerlich zu erfahren: Sie erfinden Bilder, Symbole, Gesten.

So auch das Theater: Jedes Stück ist eine kleine mythische Erzählung, die von den Zuschauern verstanden wird, weil Bilder verwendet werden, die allen bekannt sind. Das ist im traditionellen Theater nicht anders als im zeitgenössischen.

Natürlich arbeiten auch wir Komiker in den Proben rational und analytisch. Logisches Entwickeln einer Idee. Schritt für Schritt. Entwirren von Konfusion, Klärung von Bildern, Analyse von Gefühlen – das ist unsere Arbeitsweise. Doch alle Kunstschaf­fenden wissen, dass ihr Werk mehr sein muss. Dass etwas hinzu­kommen muss, was sie nicht unter Kontrolle haben. Ein Zauber, eine Magie, ein Feuer, ein Feu sacré, ein Wunder, eine Alchemie … alles nur begriffliches Herumtappen.

Es ist das, was dahinter, darunter und darüber mitschwingt, was Einzelszenen zu einem Stück werden lässt. Sein Wesen sind seine Geheimnisse. Wir ahnen nur und versuchen, sie zu lüften. Wir arbeiten Tag und Nacht, tun alles, was wir nur können, geben unser Bestes und hoffen, dass sich das «Wunder» einstellt.

Kreatives Chaos

In der Anfangsphase scheint alles wirr und zusammenhanglos zu sein. Ich lasse alle Bilder und Einfälle zu. Es findet keine Zensur statt. Ob etwas machbar sein wird, ist vorerst nicht wichtig. Ob es ideologisch oder sonst wie logisch hineinpasst, ist irrele­vant. Vieles erweist sich als Sackgasse, aber plötzlich öffnet sich ein Spalt.

Ich suche das Unbekannte und fange beim Bekannten an, bei Nebensächlichkeiten. Ich gebe dem Unterbewussten viel Raum, die bewussten Filter werden möglichst inaktiv gehalten. Ich suche archaische Bilder, die menschliche Gemeinschaften zusammenhalten. Noch spannender ist privat und kollektiv Vergessenes, Verdrängtes, Verpöntes. Das sind Spuren. Dabei tappe ich im Dunkeln. Ich habe keine Ahnung, wo ich hingelangen werde. Ich mache mich lediglich auf den Weg.

Ich muss Chaos zulassen. Sonst mache ich doch nur, was ich schon kenne. Ordnung ist, was ich geklärt und erkannt habe. Chaos ist, was mich noch bedroht. Was ich nicht, oder noch nicht, verstehe. Ich ahne nur. Fühle etwas in der Bauchgegend. Habe Sehnsucht nach Wer-weiss-was und Wer-weiss-wohin. Oder Angst. Ein enges Gefühl in der Brust. Beklemmung im Kopf.

Es ist ein Zustand zwischen Wach- und Woanderssein. Den eigenen Gedanken nachhängen. Hinhören, wenn Gefühle hochkommen, ohne sie gleich einordnen zu wollen. Ich laufe mit ausgefahrenen Sensoren herum, betrachte die Welt um mich herum nur noch aus der Perspektive der Stückidee. Ich suche in Büchern, Bildern, Filmen nach Inspiration. Auch sie verdichten menschliches Leben, mit jeweils anderen Mitteln.

Ich tappe im Dunkeln! Es ist noch keine klare Idee da, nur ein innerer Sumpf, in dem es gärt. Wir müssen uns während der ganzen Produktionszeit «in der Schwebe» halten. Nix ist fix. Bis fünf Minuten vor Premiere. Und manchmal noch danach.

2. Konzept