Wir proben sechs Tage die Woche, von 10 bis 18 Uhr. Mit Mittagspause. Dann geht der Regisseur nach Hause, und ich arbeite mit den Assistenten (Carsta und Werklehrer Mario Binetti) an den Requisiten. Wir «basteln». Das heisst, wir fertigen fast alles selbst an, was eigentlich in die Hände professioneller Berufsleute gehörte. Für unsere kleine Produktion ist das nicht anders möglich, wir bräuchten zu viele verschiedene Personen, denen wir zu viel erklären müssten. Ab und zu gebe ich einen kleinen Auftrag an lokale Spezialisten. Unsere «elektronischen Tricks» bringen wir mehrfach ins Fachgeschäft: Sie funktionieren immer noch nicht stabil.
Wir spüren eine tiefe Erschöpfung. Seit fast zwei Monaten sind wir im Theater eingeschlossen. Den ganzen Tag und oft den halben Abend.
Wir haben jede Szene schon hundertmal gespielt. Manche erweisen sich nach dem dritten Mal als zu begrenzt und werden rausgeschmissen. Andere sperren sich, wir bleiben trotzdem dran, weil uns irgendetwas triggert. Dann gibt es Ideen, die noch gar keine Ideen sind, wir riechen nur eine Fährte, haben allerdings keine Ahnung, wo sie uns hinführen wird. Einige Ideen finden wir so lustig, dass jedes Mal Gelächter ausbricht. Andere Szenen müssen rein, damit die Geschichte klar wird. Aber sie sind noch papieren, wir suchen nach verspielteren Möglichkeiten.
An dieser Stelle müsste ich die aktuelle Spielfassung einschieben. Nur ist ihr Umfang in der Zwischenzeit derart angeschwollen, dass sie dieses Kapitel sprengen würde. Auch werden die Szenen immer vielschichtiger und mehrdeutiger: Sie sperren sich gegen eine einfache Beschreibung.
Es ist ein grosses Puzzle. Einige Teilchen fügen sich zusammen, aber die meisten scheinen nirgends zu passen. Manchmal habe ich sogar den Verdacht, als seien ein paar Puzzleschachteln vermischt worden, und die Teilchen würden nie zusammenpassen.
Das Eingeschlossensein beginnt zu nerven. Wir verlieren uns in tausend Details und damit den Bezug zur Wirklichkeit. Wir werden monothematisch. Wir reden immer über das Gleiche. Wir sind übervoll. Wir bersten. Und auch wenn noch nichts fertig ist, wir müssen raus!
Wir brauchen ein Publikum. Theater macht nur Sinn mit Publikum. Ich kann für mich allein Musik machen oder ein Bild malen, aber wenn ich für mich allein Theater spiele, dann sorgen sich meine Freunde.
Als Spielerin muss ich das Angesammelte nach aussen bringen. Und das Verrückte ist, dass ich es so auch in den Körper bringe. Ich verkörpere eine Geschichte. Vor Publikum zu spielen, ist ein enormer energetischer Schub. Ich wachse über mich hinaus – oder besser: in mich hinein. Ich bin oft selbst überrascht, was ich da spiele. Es spielt. Ich spiele zwar, aber das Spiel übernimmt. Es spielt aus mir, aber auch mit mir. Es ist plötzlich ein Stück da. Ein Wesen. Und das hat eine eigene Gesetzmässigkeit, der ich nur noch folgen kann. Das liest sich etwas wirr und kann wohl nur mit eigener Erfahrung verstanden werden. Schauspielerin und Regisseur, die zwar alles geschrieben und erfunden haben, sind beide überrascht, was da plötzlich ist. Welche lebendige Fülle sich hinter dem Ausgedachten entfaltet. In diesem Sinne sehen auch sie selbst das Stück zum ersten Mal.
Vielleicht ist hier einfach die Kraft des Theaters spürbar: ein kollektives Ritual, in dem Emotionen verdichtet und gemeinsam erlebt werden. Diese Kraft bricht durch.
Clowns sind, im Unterschied zu Schauspielern, direkt mit dem Publikum in Kontakt. Sie wissen, dass sie spielen, dass ihnen jemand zuschaut, und sie spielen die Zuschauer direkt an. Ein Spiel im Spiel im Spiel. Das ist ein Grund, weshalb Clownstücke, noch mehr als anderes Theater, erst mit dem Publikum fertiggeschrieben werden können.
Ein anderer Grund ist der, dass wir, trotz langjähriger Erfahrung im Stückebauen, nie sicher wissen, ob eine Szene funktionieren wird. Ob der Lacher kommt – oder ob das Publikum uns verständnislos anschauen wird. Von einigen Szenen wissen wir, die sind todsicher, aber bei den meisten Szenen haben wir keine Ahnung. Wir müssen Neues wagen, sonst könnten wir ja gleich die alten Stücke spielen. Nur gibt es, was die Komik betrifft, keine klaren Konstruktionsregeln.
Für mich als Schauspielerin ist das nicht einfach. Ich muss Szenen spielen, die noch nicht stimmen. Es gibt Übergänge, die noch hölzern sind. Es gibt Gags, die nicht funktionieren. Es gibt Ungereimtheiten in der Geschichte. Und manchmal gibt es auch Gelächter im Publikum, und ich weiss nicht, weshalb.
Ich muss über meinen Schatten springen. Ich beherrsche die Szenen noch nicht. Ich spiele schlecht, weil ich noch mit Suchen beschäftigt bin. Da kommt auch Scham hoch. Ich kanns noch nicht.
Tröstlich ist, dass auch das Probepublikum weiss, dass wir mitten in der Arbeit sind. Dass hier noch nichts fertig ist, ich aber so tun muss, als sei es das. Manchmal ist es zum Verzweifeln, vor allem, wenn die paar Tricks im Stück immer wieder nicht funktionieren. Eine Gruppe Zuschauer kommt in jede Probevorstellung: Ihr grösstes Vergnügen ist, zu sehen, wie ich mich auf der Bühne aus den vielen Pannen rette.
Das Publikum zeigt uns unser Stück. Seine Lacher markieren, wo etwas klar ist. Die langen Momente ohne Lacher verweisen auf Unklarheiten. Wenn die Spannung nachlässt, hängen die Zuschauer ab, sie sind gelangweilt. Wir fordern sie nach der Probevorstellung auf, uns, ohne jede Schonung, zu sagen, was sie eben gesehen haben. Komplimente freuen uns, doch Kritik nützt uns mehr.
Wir staunen über vieles, was die Zuschauer in den Szenen sehen, an was wir nie gedacht haben. Jeder Zuschauer macht sich sein eigenes Stück. Wir liefern nur Anstösse, Anspielungen. Die Zuschauer sind angeregt und teilen uns viel Interessantes mit. Manchmal tut die Kritik auch weh. Und manchmal sind die Geschmäcker einfach verschieden. Wir müssen herausspüren, welche Kritik wichtig ist. Es gibt auch Zuschauer, die es für nötig erachten, uns Theater zu erklären …
Das Publikum der zehn Probevorstellungen ist gemischt, es sind nicht mehr nur die Freunde, denen wir ab und zu einen Durchlauf zeigen. Wir finden interessierte Zuschauer über Flyer, Ankündigungen auf Social Media und über Mundpropaganda.
Wir fragen immer, ob wir mit der Arbeit fortfahren sollen. Und freuen uns, wenn uns ein mehrstimmiges «Unbedingt» entgegengeschleudert wird.
Nach jeder Probevorstellung überarbeiten wir die Szenen, die vom Publikum nicht verstanden wurden. Wir werfen Szenen raus und probieren neue aus. Wir stellen die Reihenfolge der Szenen um.