2009, September. Ich treffe mich mit Michael Vogel, dem Regisseur und Co-Autor, zum ersten Probeblock. Ziel ist, nach vier Wochen einen ungefähren Spielablauf unserer Geschichte zu haben.
Am ersten Probetag möchte ich immer den Beruf wechseln. Das Gefühl von Verlorenheit und Talentlosigkeit ist unerträglich. Alle Ideen, die vorher genial schienen, sind staubig, langweilig, öde. Es liegen nur noch unüberwindbare Berge vor mir.
In Berlin kann ich von Trapezkünstlern, Die Maiers, eine Wohnung auf zwei Stockwerken mieten – die Küche ist riesig und in der Mitte neun Meter hoch, da die Decke zum zweiten Stockwerk durchbrochen wurde. Oben gehen rundherum Gänge zu den Schlafzimmern. Familie Maier ist für ein Engagement ein paar Monate in Amerika.
Wir sitzen im Proberaum. Neben uns sitzt Cristina Elias (eine Performerin aus Brasilien, die über ein Praktikum lernen will), die Regieassistentin, mit gezücktem Bleistift.
Wo anfangen?
Wir hängen das Segel in der Mitte des Raums auf.
Wir schauen auf das Segel und warten auf Eingebungen.
Es ist gross und leer. Ein weisses Nichts.
Michael kann sich nicht vorstellen, wie aus dem Segel ein guter Antagonist beziehungsweise der Tod werden soll.
Ich meine, es könnte doch ein Einstieg sein. Das Gespräch ist eröffnet. Wir diskutieren oder, besser, wir spintisieren. Assoziieren wild im offenen Gelände. Wir kreisen das Thema grossräumig ein.
Wir versuchen, an einem konkreten Fadenende anzufangen: der Figur der Schneiderin.
- Woran versteht ein Publikum, dass ich Schneiderin bin? Ich nähe. Ich schneide zu. Ich stecke Stoff mit Nadeln ab.
- Was kann ich nähen? Welche Näharbeit erzählt etwas über die Schneiderin?
- Was könnte ein Problem sein? Sticht sie sich?
- Was kann ihr Gegenüber sein? Eine Schneiderpuppe.
- Nähen ist szenisch unergiebig. Nähen und auch sich in den Finger stechen sind zu klein als Aktion – ein Zuschauer in den hinteren Reihen sieht nichts.
- Welches Unglück kann passieren, damit der Tod kommt?
- Wie kommt der Tod? Wie wird der Tod dargestellt?
Neben konkreten Spielideen führen wir lange Gespräche «philosophischer Art», um Grenzen auszuloten. Wir «reden um den Brei herum» und versuchen, in darunterliegende Schichten vorzudringen. Das Thema wird einverleibt – es geht vom Kopf in den Leib. Es will körperlich erfahren und erfasst werden. Wir kramen längst vergessene Erinnerungen hervor und suchen die Schnittmenge zwischen eigener und fremder Erinnerung. Uns interessieren vor allem die Gefühle, die von diesen Erinnerungen ausgelöst werden. Meist sind wir erstaunt, wie unterschiedlich die Gefühle ähnlicher Erinnerungen sind. Wir «tränken» unsere Zellen, lassen sie mit Eigenem und Fremdem volllaufen. Wir bekommen ein «gemeinsames Gefühl» von unseren Erzählungen.
Manchmal verlieren wir auch das Thema aus den Augen. Kommen dann aber über Umwege plötzlich von einer anderen Seite wieder hinzu. Wir wissen nicht, wo wir ankommen werden. Und noch weniger, ob wir überhaupt je ankommen werden. Wir versuchen, stossen an, versuchen, sind blockiert, versuchen, verwerfen, versuchen, scheitern, versuchen – und am Abend haben wir einen grossen Bogen im Kopf und finden kleine Teilchen zum Spielen. Am nächsten Tag verwerfen wir sie wieder …
Es gibt nur eine Regel: Jede Idee wird ausprobiert! Sie wird erspielt. Aus dem einfachen Grund, dass Einfälle und Ideen nicht ausgereift sein können, sondern noch im assoziativen Ungefähren liegen, wird das Potenzial erst im Spielen erkennbar. Im Erspielen, Anspielen, Rumspielen, Improvisieren kann sich eine Idee erst mitteilen, das heisst, mit den anderen geteilt werden.
Oft wissen wir selbst nicht, was wir mit einer Idee wollen. In der Nacht scheint sie genial. Am Morgen ist sie fad. Beim Spielen verstaubt sie.
Beide bringen wir Gefundenes mit. In meinem Berliner Hauseingang liegt ein Fotobuch mit amerikanischen Ureinwohnern «zum Mitnehmen». Das Foto einer indigenen, verärgert schauenden Schamanin hat mich angesprungen und nicht mehr losgelassen. Es initiiert lange Gespräche, die unsere inneren Bilder klären (es ist jetzt unerheblich, ob sie in wissenschaftlichem Sinne wahr sind): Schamanen und Clowns haben irgendwo, im Dunkel der Zeit, ähnliche Ursprünge. Es sind Heiler und Geschichtenerzähler. Sie führen das Ritual an, den Tanz und die Musik. Sie haben Zugang zum Sakralen: zur anderen Welt, zu den Toten, zu den Göttern, zum Jenseits. Die Menschen lieben sie und fürchten sie. Später haben sich daraus andere Würdenträger herausgebildet: Priester, Präsidentinnen, Sänger, Schauspielerinnen …
Oder wir bringen Erzählungen mit: Mein Sohn fragte in Afrika einen geachteten Mann, dem er sowohl als Schamane wie auch als Schauspieler zugeschaut hatte, was denn der Unterschied sei. Der alte Mann antwortete: die Intensität.
Improvisation
Die Schwierigkeit ist nun, vom Tisch auf den Boden zu kommen. Es sitzt sich so bequem, es lässt sich endlos reden … Ich fühle mich schwer, ungelenk und brauche Überwindung, um in Bewegung zu kommen. Was ich auch zu improvisieren versuche, es ist von vornherein lächerlich. Ich rede weiter, um mich im Spielen nicht blamieren zu müssen!
Michael nervt sich. Er hält es nicht mehr aus und fängt an zu spielen. Ich freue mich: Mir wird vorgespielt. Wunderbar!
Die Blockade ist überwunden. Ich finde ins Spiel. Und in die Lust, Ideen in die Verkörperung zu bringen.
Erster Versuch: Ich sitze im Schneidersitz auf einem Hocker und nähe an einem Stück Stoff. Das sieht nicht nach grosser Kunst aus und fühlt sich auch nicht so an.
Doch wir bleiben einfach dran. Müssen noch nicht gut sein, nur weitergehen. Weiterkommen. Wenn alles blockiert ist, tauschen wir die Rollen. Michael spielt, und ich schaue zu. Das lockert auf, vor allem mich. Wenn eine neue Idee auftaucht und «sie zündet», freuen wir uns. Michael insistiert auf seiner Grundfrage: Willst du es noch einmal versuchen? Die Antwort der Spielerin entscheidet, welches Material sich weiterentwickelt und welche Ideen und Versuche einfach wieder verschwinden.
Die Maske – der Bauch
Ich hatte in den Vorbesprechungen einen Wunsch an den Regisseur geäussert: Ich möchte eine Metamorphose meiner Figur. Ich möchte versuchen, ob ich meine Figur ändern und ohne Schaumstoffbauch auskommen könnte. Die Frage beantworten: Ist sie, bin ich, auch ohne übertriebene Rundungen komisch – oder ist meine Komik an diesen grotesken Leib gebunden? Manchmal ist er mir über, er ist mir verleidet. Ich fühle mich verkleidet, überzeichnet und übertrieben. Zu nahe an einer Fasnachtsfigur. Ich würde gerne feinere, unmerklichere Arten der Komik versuchen.
Wir proben die erste Zeit ohne «Bauch», mit meinem normalen Körper. Ich fühle mich unbeschwert. Als wir uns eines Morgens im Kreise drehen, nicht weiterkommen, schlägt Michael vor, die gleiche Szene mal mit Bauch zu spielen. Ich tue es, und wir alle sind verblüfft: Die Szenen machen einen Sprung, die Ideen sind sofort klarer. Das Spiel wird leichter und zugleich tiefer. Ideen sprudeln. Es wird komisch …
Der Bauch ist nicht einfach ein Stück Schaumgummi: Er ist Teil einer Maske. Eine Leibmaske. Es ist nicht nur ein Körper, sondern ein grotesker Leib, ein Wesen. Ein Charakter. Eine Figur. Eine Persona – im ursprünglichen Sinn des Wortes. Das bin nicht ich, durch meine Maske, also die Persona, spricht ein anderes Wesen durch mich hindurch. Faszinierenderweise bedeutete der Begriff Persona in seinem Ursprung genau das Gegenteil von dem, was wir heute darunter verstehen. Heute heisst «persönlich» und «Persönlichkeit» das zu mir Gehörende, das, was mich ausmacht und von den anderen unterscheidet. Doch das Maskentragen, um jemand anderes zu sein, ist immer noch beliebt und gebräuchlich.
Die Maske auf der Bühne trägt ihren ursprünglichen Sinn. Der Schauspieler spielt Figuren, «personaggi». Und Figuren spielen ihn. Wer spricht heute durch die Maske des Clowns? Früher waren es, für alle offensichtlich, Götter, Ahnen, Tiere. Heute? Die Tragikomik unserer Existenz?
Wir spürten die Kraft der «Hanna-Maske». Ich kann sie nicht beliebig abändern. Sie hat ihr eigenes Gesetz. Und das ist rund.
Wir erleben konkret: Clowns sind Masken. Sie sind eindeutige Figuren mit spezifischer Eigenart. Sie sind nicht privat. Und auch nicht psychologisch. Masken sind typologisch. Menschliche Zusammenfassungen. Emotionale Kreidezeichnungen.
Mein Wunsch nach Veränderung ist hier an eine Grenze gestossen. Ich kann immer neue Geschichten schreiben, aber die Figur ist immer die gleiche. Diese runde Figur ist meine Art, Clown zu sein, und meine Komik ist an diese Leibmaske gebunden.
Das wird auch der Grund sein, warum die historischen Clowns ihr Leben lang die gleiche Figur – und meist auch die gleiche Nummer – spielten. Wie auch die «comici» der Commedia dell’Arte. Die Figur blieb immer dieselbe, sie verfeinerten lediglich die Komik. Die Schwierigkeit, und die Kunst, ist, eine Figur zu erschaffen, die vom Publikum als Maske anerkannt wird.
Aber diese «Energie der Maske» so bestimmt zu erfahren, lässt mich die Figur neu entdecken. Sich immer wieder neugierig machen, um Altbekanntes neu zu erleben – und neu zu lieben.
Musik
Es ist schnell klar, dass das Stück stark von Stimmungen abhängig sein wird. Viel Dunkel, Halbdunkel und grelle Blitze. Es schreit geradezu nach Musik. Und nach Lichtstimmungen. Licht und Musik gehören zusammen.
Bei mir gilt immer: so wenig wie möglich und so viel wie notwendig. In den bisherigen Stücken habe ich mir die Musik zum Stück neu komponieren lassen. Oder, bei der Waschfrau Hanna, gar keine Musik eingesetzt.
Michael, von Familie Flöz gewohnt, mit Musik zu arbeiten, bringt haufenweise CDs mit. Er schlägt Franui vor: ein klassisch ausgebildetes Orchester aus Österreich, das eigene Wege geht. Sie spielen Schubert und Brahms auf Blechinstrumenten, was ihnen etwas Volkstümliches und Frohes gibt. Faszinierend ist ihre Erzählung, dass sie früher oft an Begräbnissen Trauermärsche gespielt hätten, und dann, nach Leichenmahl und Trosttrunks, die gleiche Musik nochmals, nur dreimal schneller. Das passt zur Schneiderin. Wir finden für alle Stimmungslagen die passende Musik bei Franui. Zum ersten Mal finde ich Musik für ein Stück auf schon bestehenden Tonträgern.
Erste Fassung
Nach vier Wochen ist dies unsere erste Fassung:
Dunkel auf der Bühne. Ein lauter Schrei. Das Licht geht an: Hanna sitzt auf einem Schneidertisch und hat sich in den Finger gestochen. Sie näht weiter.
Eine schwarze Katze geht über die Bühne.
Vom Kalender fallen die Blätter und von einem geblümten Kleid die Blumen.
(Hanna bemerkt nichts, es soll nur eine Stimmung von düsterer Vorahnung entstehen.) Hanna hört ein Schnarchen: Ihre Beine sind eingeschlafen.
Beim Zuschneiden eines Stoffs durchtrennt sie ein elektrisches Kabel.
Dunkel. Sie zündet eine Kerze an. Ein Totenkopf erscheint auf der Schneiderpuppe, die sich dreht. Hanna findet den Hauptschalter oder «näht» das Kabel wieder zusammen.
Sie näht weiter. Hat Probleme mit Einfädeln, weil sie den Blick so scharf stellen muss, dass sie ins Schielen kommt. Sie fädelt hinterm Rücken ein.
Weil sie noch so viel Arbeit hat, näht sie schnell und sticht sich in Finger und Zunge. Um den Schmerz zu löschen, spritzt sie Wasser aus einer Spritzflasche. Sie bespritzt auch den Stoff, und die Blume im Muster blüht auf.
Sie will aufstehen, kann aber nicht, weil ihre Beine eingeschlafen sind.
Alle Kleider hängen mit Schnüren an der Decke. Sie lässt eines runter. Die Blume auf dem Stoff verwelkt. Sie spritzt wieder Wasser. Die Blume wächst und wird ans Kleid genäht. Kaum angenäht, fällt eine andere Blume vom Kleid. Dann eine dritte. Hanna macht sie mit Spucke an. Alle Blumen fallen runter. Alle Kleider fallen runter.
Hanna näht einen Ärmel an ein Kleid und merkt nicht, dass sie den eigenen Ärmel annäht. Beim Weggehen reisst sie den Ärmel des Kleids mit. Reisst daran und reisst sich auch den eigenen Ärmel ab. Reisst so lange, bis beide Ärmel nur noch Stofffetzen sind.
Jetzt reicht der Stoff nicht mehr. Sie wühlt in ihrem Stoffkorb. Fetzen fliegen herum. Findet nichts Passendes. Sucht überall auf der Bühne. Schaut in den Zuschauerraum. Sieht Stoffe in allen Farben! Will einer Zuschauerin ein Stück ihres Kleids abschneiden. Heftiges Handgemenge.
Hanna, mit einer Schere, die im Kopf steckt, geht zurück auf die Bühne. Sucht die Schere, um Stoff zuzuschneiden. Findet sie nicht. Kratzt sich nachdenklich am Kopf. Berührt das Metall: Da ist sie ja! Nimmt die Schere vom Kopf und arbeitet weiter. Rauch tritt aus ihrem Schädel.
Es klingelt. Sie drückt den Türknopf auf der Bühne. Die Post.
Durch den Zuschauerraum kommt ein Postbote mit einem grossen Paket.
Zum Öffnen des Pakets benutzt sie die Schere wie einen Büchsenöffner.
Sie hebt den Deckel, es gibt eine Explosion, und ein riesiges Etwas schnellt heraus und überfällt sie (bewegtes Tuch, mit flatternden Fransen wie Krallen).
Hanna wird in das Paket hineingezogen, kann sich aber dank ihrer Schere befreien.
Sie klappt den Deckel zu und setzt sich zitternd drauf. Der Deckel drückt hoch. Sie drückt runter. Sie hört eine dumpfe Stimme aus der Schachtel. Oder ist es ein Sarg? Das Tor zur Unterwelt? «Hannaaaaaaaa, es ist Zeiiiiiiiit …» Der Deckel spickt sie fort.
Hanna, zitternd, sagt: «Ich komme, ich komme …» Nur noch den Ärmel fertig nähen. Und dann noch etwas essen: ein Schnitzel … nein, nichts Totes!
Und dann will sie sich noch ein letztes Mal verlieben. Sie wählt sich einen Mann aus dem Zuschauerraum aus und führt ihn auf die Bühne. Sie sucht ein Bett, öffnet das Paket und will mit dem Mann hinein. Sie bemerkt den Irrtum, schreit erschreckt und springt dem Mann in die Arme: Rette mich!
In der Schachtel rumort es. Hanna will noch ihr Atelier in Ordnung bringen, reinen Tisch machen. Sie räumt ihr Nähkästchen auf, dabei kommen so viele Erinnerungen hoch. Sie findet im Nähkästchen alte Liebesbriefe … Es rumort in der Schachtel.
Hanna will nur noch ihr Testament machen. Wer kriegt ihre Schuhe, ihre Träume?
Und dann will sie noch eine letzte Zigarette rauchen. Fragt im Publikum nach Zigaretten. Liest auf der Packung «Rauchen kann tödlich sein», wirft sie weg. Sucht Zigarillos, Zigarren. Misst die Länge und rechnet sich die Restlänge ihres Lebens in Atemzügen aus. Findet bei jungem Mann riesigen Joint. Geht damit auf die Bühne und will ihn anzünden. Sieht Schild: «Rauchen verboten».
Dann bietet sie dem Tod einen Tauschhandel an: an ihrer Stelle den jungen Mann mit dem Joint, der eh zu viel raucht, zu nehmen. Oder die ganze erste Reihe, das ganze Parkett, die Garderobieren als Bonus. Der Tod aber will nur sie: Er hat Geschmack.
Der Tod ist so kalt. Sie will ihn wärmen, ihm ein warmes Kleid nähen.
Tanz mit dem Tod: Sie tanzt mit der Schneiderpuppe (von innen beleuchtet, sieht diese wie ein Skelett aus). Tanzend legen sie sich in die Schachtel, als würden sie ins Bett steigen, winken, werfen Blumen, wie bei einer Hochzeit. Alle aufgehängten Kleider tanzen mit. Charivari.
Postbote holt Schachtel wieder ab.
ENDE
Michael und mir ist klar, dass diese erste Fassung nur ein grobes Gerüst ist. Oder im Schneiderinnen-Jargon: «Es ist zu Faden geschlagen.»
Offene Probe
Mit dieser Fassung machen wir eine erste, halb öffentliche Probe. Wir laden Freunde und Kollegen ein und spielen ihnen vor, was wir entwickelt haben. Auch Gerda Baumbach und Dominik Flaschka kommen.
Wir haben noch kein Stück, aber viele Szenen und Vorstellungen, wie es weitergehen könnte. Michael erzählt vor dem Spielen, was sich die Zuschauer vorstellen müssen, was alles da wäre, aber noch nicht da ist. Ich spiele die Szenen, die wir haben, und erzähle Übergänge, die noch fehlen. Es gibt noch kein Bühnenbild und kein Kostüm.
Resultat des ersten Vorzeigens unserer Szenen: Die Szenen im Publikum, die Schere, das Nähen am Blumenkleid, die sich verändernde Schneiderpuppe – sie funktionieren. Das Publikum lacht, ist interessiert, geht mit.
Jedoch: Die Zuschauer verstehen unsere Bilder vom Tod nicht. Niemand hat Zugang gefunden. Der Postmann und die Sargschachtel bewirken nur Ratlosigkeit. Dominik und Gerda äussern sich skeptisch zur Dramaturgie des Stücks.
Michael schlägt vor, den Tod beziehungsweise den Antagonisten als Video einzuspielen. Ich reagiere ablehnend. Ich mag Videos in Theaterstücken nicht, weil Theater, in unserer digitalen Welt, der einzige Ort ist, in dem ein direkter, ein nur hier und jetzt stattfindender Austausch mit dem Publikum passiert. Auch macht es mich als Spielerin von Technikern und Geräten abhängig. Abgesehen davon wird der Aufbau komplizierter, und ich muss Theater ausschliessen, weil sie die Infrastruktur nicht haben. Daher arbeitete ich noch nie mit Videos. Michael hingegen schon. Er hat 2005 bei «Infinita» einen ähnlichen Prozess durchgemacht. Erst war er skeptisch, doch dann gelangte er zur Überzeugung, dass die Schattenspiele dem Stück etwas bringen, was auf eine andere Art nicht zu erzählen war.
Michael und ich vereinbaren eine zusätzliche Woche, um eine Lösung für die Darstellung des Todes zu finden. Uns ist klar: Wenn wir wissen, wie der Tod auf die Bühne kommt, dann haben wir das Stück. Unser ganzes Denken, Diskutieren, Vorstellen, Ausmalen dreht sich nur noch darum: Wie sieht er aus, der Tod?
Das gängigste Bild wäre ein Skelett mit Sense, das mich abholt. Wir wollen aber kein Skelett. Szenisch zu verbraucht. Wir wollen auch keine spezifisch christliche Symbolik. Keine Kreuze.
In vielen Mythen werden Vögel mit dem Tod verbunden. Die christlichen Engel, Flügelwesen, sind eine Art vermenschlichte Vögel. Und da im Leben der Tod immer schon mit dabei ist, also in mir drin, könnte ich selbst meinen Todesengel spielen.
Der Tod ist immer auch Erlösung. Er bringt Ruhe. Stille. Entspannung. In der Literatur ist die Todessehnsucht ein Thema. Vielleicht ist das eine Spur?
Wir gehen nach Hause. Jeder kehrt ins eigene Leben zurück. Wir beschäftigen uns wieder mit unseren alten Stücken – doch in irgendeiner Kompostnische des Gehirns gärt das Stück weiter.