Parallel zu den Proben haben wir auch immer versucht, uns Bühnenbilder vorzustellen. Wir zeichnen, planen, besprechen und bauen uns vor Ort aus Holzlatten und Karton provisorische Teile zusammen. Wir basteln aus allen möglichen Materialien Requisiten zum Ausprobieren. Sie müssen noch nicht gut aussehen, sie sind nur Platzhalter.
Jetzt wird aber das richtige Bühnenbild gebaut. Es soll einerseits selbst eine Geschichte erzählen und andererseits Spiel und Handlung Raum geben. Ich will so wenig Bühnenbild wie möglich. Mein Traum war und ist eine leere Bühne. Ich will keine «Dekoration», sondern «Spielsachen».
Nebst der Faszination eines leeren Raums gibt es praktische Gründe für die Leere: Wir sind freischaffende Künstler, die, begleitet von Technikern, mit Theaterstücken durchs Land reisen. Jeden Tag muss das Bühnenbild auf- und abgebaut werden. Vom Hintereingang auf die Bühne und wieder an den Hintereingang geschleppt werden. Alles muss in den Tourbus passen. Es muss fliegen, also in Kisten gepackt werden können, wenn wir auf anderen Kontinenten arbeiten.
Aber es ist auch eine philosophische Entscheidung. Ich liebe armes Theater. Mehr Theater als armes Theater gibt es nicht. Fantasie ist zentral. Viel Fantasie, wenig Material. Ich stelle mir auf der Bühne etwas vor, und das ganze Publikum geht mit der Fantasie mit. Faszinierend.
Grosse, schwere Bühnenbilder können dem Schauspieler die Kraft nehmen, ihn erdrücken. Er bewegt sich in einer Dekoration. Er passt zur Dekoration. Er geht in der Dekoration unter. Ohne Bühnenbild steht das Spiel im Zentrum. Die Imagination kann sich entfalten. Meine Vorstellungen im Kopf werden zu einer Vorstellung auf der Bühne, die im Kopf der Zuschauer Vorstellungen auslöst.
Jetzt ist das Stück so weit geschrieben, dass das Bühnenbild hergestellt werden kann.
Der Bühnenbildner Urs Moesch ist für das, was ich brauche, genial.
Ich brauche ein kleines, klares Universum. Eine eigene Welt, die Welt der Figur, die simpel sein muss. Karg. Klar. Im Hintergrund. Nur das Nötigste. Sie muss der Geschichte einen Rahmen geben, darf aber nicht im Zentrum stehen. Sie unterstützt die Geschichte, dient ihr. Sie besitzt eine präzise Stimmung. Nichts Unnötiges. Nichts nur Dekoratives.
Ich mache vieles selbst, weil ich es gerne tue und auch in den Dingen einen eigenen Stil haben will. Mit den Händen zu arbeiten, ist aber auch ein anderer Weg, um auf Neues zu kommen. Manchmal ist der Kopf blockiert. Dann können Zeichnen, Basteln, Rumwühlen neue Fährten aufzeigen.
Mit Urs Moesch vereinbarte ich schon vor einem Jahr, dass er das Bühnenbild machen wird. Nun arbeite ich als seine «Assistentin» zwei Monate mit. Wir besprechen ausführlich die Skizzen. Wie sollen die Puppen gemacht werden, wie aufgehängt, wie können sie bewegt werden? Es ist eigentlich ein Weiterschreiben am Stück.
Urs fertigt ein dreidimensionales Modell an. Nur so können wir uns vorstellen, wie die Schneiderin im Raum handelt, was sie mit den Puppen machen kann, wie sie auf dem Tisch sitzt oder darauf herumtanzt.
Wir machen einen Arbeitsplan. Wir brauchen Spezialisten: einen Schmied und einen Trickmeister oder einen Experten in Modellflugbau. Alle Tricks wie die fallenden Blumen- oder Kalenderblätter müssen mit Fernsteuerung gebaut werden, damit sie wirken.
- Der Tisch: Für die Eisenteile gehen wir in die Schmiede zu Fausto Milani. Ich sage ihm, dass der Tisch keine geraden Beine, sondern eine Art Spinnenbeine haben soll. Der Handwerker schüttelt nur den Kopf, so krumm, das geht gegen sein Berufsethos. Also male ich vier verdrehte Beine, und er schmiedet sie nach Plan nach. Urs zimmert den Tisch und erfindet die Mechanik für die Gruft, die sich öffnen muss. Der Zuschauer darf nicht vermuten, dass der Tisch etwas verbirgt. Und wie geht die Klappe hoch? Mit Federn und Gewichten. Wie löse ich sie aus? Ich bin allein auf der Bühne, und das Publikum darf nicht sehen, dass ich sie auslöse. Wie schliesse ich die Klappe wieder? Ich höre fasziniert zu, wie der Handwerker und Erfinder Urs die technischen Knacknüsse löst. Ich schleife derweil die Tischplatte rund und wellig und male den Tisch auf alt.
- Die Schneiderpuppen: Ich fände es grossartig, wenn die Puppen anfangs wie Puppen und am Schluss wie Skelette aussehen würden. Der Sohn von Urs ist Computerfachmann und berechnet uns Puppen, die von einer Maschine in Streifen geschnitten werden. Ich verbringe unzählige Tage damit, diese Längsrippen mit Schnüren und Nieten zu Puppen zusammenzubauen.
- Das Segel: Vieles funktioniert auch nach vielen Versuchen nicht. Die Idee ist, dass am Schluss, wenn die Schneiderin stirbt, plötzlich ein grosses Segel aus dem Nichts auftaucht und sich entfaltet. Und sie segelt davon. Wir probieren vieles aus – alles bleibt kompliziert, plump, unbrauchbar. Am Schluss werfen wir alles weg: Die Schneiderin nimmt eine weisse Stoffrolle, rollt davon das Segel ab und befestigt es an der höchsten Spitze. Dann nimmt sie eine blaue Stoffrolle, lässt sie über den Tisch aufrollen, es sieht wie fliessendes Wasser aus. Sie fixiert die Enden an der offenen, braunen Klappe, was diese wie ein Holzboot aussehen lässt. Das Segelboot ist da!
Wir arbeiten zu viert ungefähr zwei Monate lang. - Die Tricks: Fallende Blumen- und Kalenderblätter, die wir im Modellflugzeugladen kaufen und zusammensetzen wollen, funktionieren nicht. Es erweist sich als viel heikler und komplizierter. Stabil funktionierende Lösungen finden wir erst während der Endproben in einem Berliner Fachgeschäft für Modellbau. Einer der Angestellten erkennt unsere Verzweiflung und unser Unwissen und erbarmt sich. Er schafft es just für die Probevorstellungen, die Teile mit Fernbedienung zu konstruieren. Jeden Tag gehen wir im Laden vorbei, um sie zu perfektionieren. Diese Modellflugzeugteile sind so winzig und elektronisch hochfrisiert, dass auch der Fachmann lange tüfteln und korrigieren muss. Doch wenn jetzt auf der Bühne, wie von Geisterhand, die Blumenblätter fallen, macht das natürlich den Zauber der Vorstellung aus.
Für die Kalenderblätter findet Urs eine geniale Lösung: Er zerlegt einen Fotokopierer und baut den Teil ein, der die Blätter transportiert. Doch alle Blätter fallen gleichzeitig. Er verwirft die Idee. Dann zieht er einen Nagel durch die Blätter, der mit einem kleinen Motor zurückgezogen wird. Die Blätter fallen zwar, aber entweder sind sie zu dick und bleiben hängen, oder zu dünn, und sie reissen. Es braucht Tage, bis alles stimmt.
Damit ich während der Vorstellung nicht Opfer des Materials werde, muss ich mich gut organisieren. Ich muss die Dinge über das normale Mass hinaus beherrschen, um mit der «Tücke des Objekts» spielen zu können.
Zur Klärung helfen Listen. Sie schaffen Ordnung in der Werkstatt, im Probesaal und auch in meinem Kopf. Sich mit Listen befassen, heisst, sich mit Inhalt befassen. Das löst den kreativen Druck. Oder schafft ein Geländer, an dem ich etwas Halt finde. Im Wissen, dass die Liste morgen eine andere sein wird.
Und dann brauche ich ein Kostüm. Das Atelier der Schneiderin Anna Manz ist in der Nähe. Ich beschreibe ihr meine Bühnenschneiderin so:
Schuster gehen meist selbst in den schlechtesten Schuhen – die Schneiderin soll auch die schlechtesten Kleider tragen. Ihr Schneideratelier ist voller Stoffreste, aus denen sie sich ihr Kleid zusammennäht. Sie ist eine top Schneiderin, sie hat es drauf: Das Kleid soll elegant, schwungvoll und fröhlich sein. Vielfarbig wird es durch die Resteverwendung. Es soll reich und arm sein. Sie soll wie Hanna die Wäscherin aussehen, sich aber als Schneiderin hervortun.
Und dann brauche ich weisse Unterwäsche, sie ist gleichzeitig auch das Seelenkleid, das Totenhemd. Vom Flohmarkt besorge ich alte Nachthemden aus Leinen und Spitzen, die Anna mit viel Aufwand umarbeitet.