Werkbuch «Die Schneiderin»

7. Probeblock IV – Proben

Und dann treffen Michael und ich uns endlich zum eigentlichen Probeblock. Ich miete in Berlin-Mitte für zwei Monate das Studiotheater TISCH, Theater in der Schokofabrik.

Bis jetzt ging es um das Erfinden und Schreiben der Szenen – wir waren vor allem Autoren. Jetzt geht es ums Spielen. Wir probieren aus, WIE zu spielen ist. Jetzt führt Michael Regie, und ich bin die Schauspielerin. Das ist der schöne, ruhige, handwerkliche Teil der Arbeit, weil nicht mehr immer alles infrage gestellt ist. Wir haben eine Figur, ein Bühnenbild, ein Kostüm und einen ungefähren Umriss für ein Stück. Das Stück ist noch nicht fertig, aber wir haben eine Ausgangslage, ein Problem, eine Katastrophe, Handlungen, komische Situationen – und viele mögliche Ideen. Wir wissen auch, wie das Stück endet – Hanna stirbt –, aber wir wissen noch nicht, wie wir dahin kommen.

Die Unsterblichkeit des Clowns ist ein Topos: Er kann gar nicht sterben, er springt dem Tod immer wieder von der Schippe. Die urtümliche Bedeutung des Komischen, das sich über den Tod lustig macht, sich über ihn hinwegsetzt. Im Trickfilm «Willy Kojote» geniesst es der Zuschauer, wie der Kojote in jeder Episode immer wieder in den Abgrund stürzt, dabei metertief im Felsen einschlägt, sich den Staub abwischt und unbeirrt die nächste Attacke auf die Wüstenvögel plant. Komische Figuren sterben nicht. Sie sind Aufstehmännchen. Aufstehweibchen.

Ich möchte aber Hanna unbedingt sterben lassen. Das habe ich bei Michael schon in den Vorbesprechungen als Wunsch deponiert. Unsere grösste Katastrophe ist der Tod, und ich möchte Hanna dieser Katastrophe aussetzen. Das Drama muss seinen Gang nehmen. Nur die grösste Katastrophe ist wirklich komisch.

In acht meiner neun Stücke ist Hanna am Schluss tot. Aber es ist ein «Spieltod». Die Auferstehung folgt sogleich. Es ist ein symbolischer Tod, den mythischen, religiösen und heldischen Todesnarrativen ähnlich – einfach lustiger. Es ist ein Tod, wie ihn Kinder spielen: Peng! Getroffen! Ahhh! Umfallen! Tot!

Die Schneiderin muss sterben. Aber, für mich von zentraler Bedeutung: Sie muss sterben wollen. Wir müssen Gründe finden, weshalb sie gehen will. Sie erleidet den Tod nicht als Opfer, sondern sie wählt ihn. Sie geht hoch erhobenen Hauptes. Clowns scheitern immer, das aber grossartig. Hanna soll grandios sterben. Nur wie?!

Das Drama oder, besser, der Konflikt, findet zwischen der «Seele» statt, die fliegen will, und dem «Körper», der bleiben will. Die «Seele» wird gewinnen, doch die Verzögerungen, die der «Körper» rausschlagen wird, sind die lustigen Szenen. Wir müssen jetzt die Spiegelszenen konkretisieren, schreiben, fixieren und aufzeichnen. Das Absurde ist, dass wir noch nicht wissen, wie wir zum Schluss kommen, und trotzdem einen mittleren Teil so schreiben müssen, als wüssten wir es. Alles ist nach wie vor in Bewegung. Alles kann noch gestrichen oder neu erfunden werden. Wir schreiben ein Stück im Stück, als gäbe es das Stück schon.

Konkret müssen wir bestimmen, wie viele Spiegelszenen mit welchen Themen es geben wird. Und wie sie enden. Dazu muss die Spiegelfigur geklärt werden:

Wer ist sie, was will sie, was fürchtet sie, was ersehnt sie? Sie ist die Antagonistin, die Widersacherin, die Feindin, die bedrohliche Übermacht, das personifizierte Schicksal, die Stärkere, die Richterin, die Gewinnerin, die Schicksalsgöttin, die Gemeine, die Böse, die Zerstörerin …


Protokolle

Videos Probeblock IV


PRODUKTION DER VIDEOS

Wir machen erste Versuche, wie die Spiegelszenen technisch gebaut werden könnten:

Wir informieren uns bei Filmstudios über das Anmieten von Blue oder Green Box. Es ist sehr kostspielig. Unsere Techniker meinen, dass das für unsere projizierte Bildgrösse nicht nötig sei. Wir entscheiden uns für eine Black Box und hängen einfach unseren Proberaum schwarz aus.

Die Kamera muss seitlich über mir aufgehängt werden. Das ergibt ein Raumgefühl. Nur von vorne gefilmt, würde das Bild zweidimensional wirken, von seitlich oben hingegen wird es dreidimensional. Auch wäre mein Körper von vorne angeschnitten, hätte ich nicht immer genügend Distanz zur Kamera, um ganz im Bild zu sein. Von seitlich oben bin ich schneller mit dem ganzen Körper im Bild und kann herumgehen. Ich kann grösser und kleiner werden, indem ich nach hinten und nach vorne gehe. Die Decke des alten Studiotheaters ist voller Heizungsrohre, was ideal ist. Wir befestigen die Kameras an verschiedenen Rohren und bestimmen den besten Winkel.

Ein kniffliges Problem sind die Blickrichtungen. Wohin muss mein Spiegelbild schauen, damit das Gesicht zu mir gerichtet ist, wir uns also in die Augen schauen? Wir probieren aus, und überraschenderweise ist die Lösung: nach schräg oben und nach vorne geschoben. Ein Mathematiker könnte wohl begründen, was wir ertastet haben. Wir hängen ein weisses Tuch an das Heizungsrohr und projizieren darauf die Gegenszene. So kann ich mit mir selbst spielen.

Wir schreiben Dialogszenen ohne Worte. Kurze Streitszenen. Immer muss klar sein, was die eine und was die andere Fi­gur will. Wir proben die Szenen mit zwei Schauspielerinnen. Carsta Zimmermann (Schauspielerin und hier Regieassistentin) spielt mein Gegenüber. Wir schreiben den Dialog mit dem Spiegel-Ich wie eine normale Theaterszene. Wie immer ist wichtig, dass wir kurz und knapp bleiben. Der Inhalt wird mehrfach gestrafft, vereinfacht, verdichtet.

Die Seele muss sich zu einer ambivalenten Theaterfigur formen: Sie ist nicht nur lieb und ätherisch, sondern auch fies und gemein. Sie möchte wegfliegen und tut alles, um nicht daran gehindert zu werden. Die Szenen sollen in der Art eines klassischen Komikerduos gespielt werden, ohne himmlische oder esoterische Verklärungen. Die Antagonisten sehen nur ihr eigenes Interesse und wollen es durchsetzen.

Ist eine Szene brauchbar, und funktioniert sie mit den zwei Schauspielerinnen, dann zeichnen wir meine Rolle mit einer Handkamera auf, projizieren sie auf das Tuch, und ich spiele dazu die Gegenrolle. Wir nehmen beide Rollen auf, denn um später die Spiegelszenen erarbeiten zu können, muss ich genau wissen, was ich dazu auf der Bühne spielen werde. Wie ich reagiere, wo ich schnell und wo ich langsam agiere. Ich muss quasi die ganze Szene auswendig wissen, aber jede Rolle so spielen, als wüsste ich nicht, wie die andere Figur reagiert.

Für die tatsächlichen Aufnahmen haben wir eine Woche mit technischem Team und gemietetem technologischem Equipment vorgesehen. Licht. Ton. Kamera.

Ich profitiere enorm davon, dass alle Mitarbeiter, als Truppenmitglieder der Familie Flöz, schon viel Videoerfahrung haben. Nur dank dieser langjährigen Berufserfahrung ist es möglich, dass wir die Aufnahmen in einer Woche machen können.

Und das Überraschende ist: Wir müssen nichts nachdrehen. Wir schmeissen sogar aus dramaturgischen Gründen überschüssige Szenen weg.

Erst installiert Lichtdesigner Reinhard Hubert das Licht, was ziemlich knifflig ist. Ich muss von allen Seiten hell beleuch­tet sein, ohne Schattenwurf auf mir. Nur so entsteht der leere Raum um mich herum. Der Musiker und Tontechniker Dirk Schröder macht die Tonaufnahmen. Er wird sie auch nachbearbeiten und schneiden. Andreas Dihm (Computeranimation) kontrolliert die aufgehängte Kamera. Michael übernimmt die Regie.

Wie «fliege» ich? An einem Seil aufgehängt zu sein, hat sich als unbrauchbar erwiesen: Es bleibt immer sichtbar, wo und wie ich befestigt bin. Auch die Möglichkeiten, auf dem Boden zu agieren, haben sich als sehr einschränkend erwiesen und sind schnell erschöpft.

Wir stellen im schwarz ausgekleideten Studio einen kleinen Tisch auf, bedecken ihn mit schwarzem Tuch. Ich stehe davor, lehne mich nur leicht an, sitze ganz knapp auf der Kante. So machen wir alle Flugszenen. Wichtig ist, dass meine Füsse fix sind, sich nicht bewegen. Das würde in der Animation die Illusion vom Fliegen kaputtmachen, es würde wirken wie Gehen. Ich muss so spielen, als wäre kein Gewicht auf meinen Füssen.

Wir bauen eine Rampe, so kann ich für die erste Szene in die Kamera schauen und in den Raum gehen. Im Spiegel erscheint gross das Gesicht, bevor die Figur weg- und herumgeht und sich im leeren Raum zu orientieren versucht.

Ein grosses Problem: Durch die Bearbeitung am Computer lässt sich mein Bild grösser und kleiner machen und kann nach Belieben verschoben werden. Doch es lässt sich nicht drehen, wenigstens nicht mit den einfachen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir nehmen eine Trommel aus einer alten Waschma­schine, die Michaels Vater, der Elektriker war, als Kabelrolle gedient hat, und bedecken sie mit einem schwarzen Tuch. Michael, schwarz gekleidet, mit schwarzem Kopfstrumpf und Handschuhen, kniet am Boden und dreht die Trommel. Ich sitze mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Trommel und «fliege» vergnügt umher. Auch alle Flugszenen im Schneidersitz werden auf der drehenden Waschmaschinentrommel inszeniert.

Die Schere im Kopf, die sich wie ein Helikopter dreht: Der schwarz vermummte Michael steht mit Akkubohrer hinter mir. Im Bohrer steckt die grosse Schere und dreht. Vorne spiele ich Schmerz, als würde die Schere in meinem Kopf stecken.

Die Seele des Vogels, die bei seinem Ableben im Spiegel erscheint: Der Bühnenvogel aus Plastik wird an eine Scheibe gestossen, die vor der Kamera fixiert ist. Schwarze Handschuhe halten den Vogel an einer Art Rückenfalte von hinten.

Die Seele, Vishnu, mit den vielen Scheren: Wir nehmen alle Armpositionen mit der gleichen Körperhaltung auf, und Andreas verarbeitet sie am Computer.

Der lange Hals: Ich stelle mir vor und spiele, dass mein Hals lang wird und der Körper nachschnellt, alles stehend und an den Tisch angelehnt, und Andreas macht den langen Hals und das Hochschnellen erst nachher am Computer. Alle Fallszenen wer­den ebenso aufgezeichnet: Ich spiele sie und stelle mir vor, wie sie nachher im Video aussehen werden.

Wir drehen alle Spiegelszenen, und Andreas Dihm macht sich an die Bearbeitung am Computer. Sobald eine Szene fertig ist, schickt er uns das File, und wir bearbeiten sie wie alle Spielszenen auf der Bühne. Wie immer im komischen Fach: Sie müssen so knapp wie möglich sein. Wir, die konkrete und die digitale Hanna, spielen zusammen und fixieren die szenischen Bögen jeder Begegnung.


Protokolle und Videoszenen aus Probeblock II


Sie hat einen Vogel

Es gibt im Stück noch einen zweiten wichtigen Antagonisten: den Vogel. In jedem meiner Stücke sind solche Antagonisten, weil ich sie als dramaturgische Tricks brauche. Das Publikum muss einiges wissen, um die Situation im Stück verstehen zu können. Das Einfachste, aber theatralisch Langweiligste ist, kurze Erklärun­gen zu machen. Im Sprechtheater ist das leichter zu verstecken als im Körpertheater. In Dialogen können Informationen unauffällig verpackt werden, weil beispielsweise eine Figur mehr weiss als eine andere. Oder weil sie verschiedene Ansichten haben und sich streiten. Als Solistin auf der Bühne fehlt mir das Gegenüber. Ich muss es erfinden.

Im Schneideratelier ist es ein Vogel im Käfig. Er ist der Schneiderin bester und einziger Freund. Sie lacht mit dem Vogel, schimpft mit ihm, füttert ihn – und erzählt so nebenbei ihre Situ­ation und ihre Probleme. Was sie dem Vogel erzählt, erzählt sie dem Publikum, und in der Beziehung zum Vogel erzählt sich ihre Figur. Wichtig ist, dass auch der Vogel eine klar ausgearbeitete Figur ist, mit Bedürfnissen und Macken. Unser Vogel erzählt gerne Witze, findet aber nie das Ende.

Für mein mimisches Theater muss ich eine Vogelsprache erfinden. Wir schreiben inhaltlich klare Dialoge, dann brabble ich den «Vogeltext» auf Band, und der Tonmeister verändert Höhe und Geschwindigkeit, bis es wie Vogelgezwitscher tönt. Später auf der Bühne kann die Schneiderin fröhlich mit ihrem Vogel schwatzen, er gibt ihr immer die richtige Antwort – ohne ein einziges Wort zu benützen.

Im Laufe des Schreibens und Probens wird die Rolle des Vogels mehrere Male erweitert, gekürzt, rausgeworfen und wieder von zentraler Wichtigkeit. Dramaturgisch brauche ich den Vogel, weil wir immer noch nicht wissen, wie Hanna schliesslich sterben wird. Ihre Tricks, dem Tod von der Schippe zu springen, funk­tionieren dermassen gut, dass es etwas Überwältigendes braucht, um sie umzustimmen. Es ist das Erscheinen der Vogelseele im Spiegel, die fröhlich um ihre Seele tanzt und bewirkt, dass Hanna schnurstracks ins Jenseits will.

Natürlich weiss das Publikum, dass es nur ein Plastikvogel mit ein paar aufgeklebten Federn ist. Und trotzdem ist es der traurigste Moment des Stücks, wenn Hanna den toten Vogel in einer Knopfschachtel an zwei Bändchen langsam ins Nähkästchen­grab runterlässt. Dann sind im stillen Saal immer laute Seufzer zu hören.


Vogelstimme Vorlage

8. Produktion