Ein paar Monate später sind Michael und ich im Dock 11 & Eden Studio in Berlin, um szenische Bilder für die «Himmelfahrt» zu finden. Wir ahnen, dass der Spiegel eine zentrale Rolle einnehmen wird. In vielen Mythen und Märchen kommen Spiegel vor. Sie sind der Übergang in eine andere Welt. Sie spiegeln uns, und wir erkennen uns in ihnen.
Um erneut ins Thema einzutauchen, kaufen wir reflektierendes Material: Spiegel, Spiegelfolie, Plexiglas, Glas, Aluminium, Blech – alles, was ein Bild zurückschickt. Wir beleuchten es von vorne, von hinten oder von der Seite. Beobachten, was passiert. Wie spiegeln die Elemente, wie geht das Licht durch?
Ein Spiegel auf der Bühne ist technisch gesehen ein grosses Problem: Das gespiegelte Scheinwerferlicht blendet das Publikum. Das Ausleuchten der Bühne nur mit Ober- und Seitenlicht ist kompliziert. Wir lösen das Problem zur Hälfte, mit schräg gestelltem Spiegel, der so das Licht an die Decke wirft.
Uns gefällt die Idee, dass mich der Tod aus dem Spiegel anblickt:
Ich wende mich erschreckt ab, schaue wieder hin und sehe mein normales Spiegelbild – es war nur meine Einbildung. Ich drehe mich einen Moment, und wieder schaut der Totenkopf. Ich erstarre, der Totenkopf grinst usw.
Wir stellen uns Szenen vor, in denen mich aus dem Spiegel abwechselnd mein Gesicht und mein Totenkopf anblickt. Wenn ich aber vor dem Spiegel stehe, sehen die Zuschauer nicht, was ich im Spiegel sehe: Ich stehe ja davor und verdecke das Spiegelbild. Wie ich mich auch hinstelle, ein Teil des Publikums sieht nicht in den Spiegel. Das Spiel bleibt statisch und erschöpft sich schnell.
Wir überlegen uns Filmszenen, die auf den Spiegel projiziert werden könnten. Doch Videos, um zu füllen, wo die Ideen fehlen?
Wir reden und reden und reden …
Der Spiegel scheint uns das Tor in die andere Welt, sperrt sich aber in funktionaler Hinsicht. Wir wollen Theater machen, keinen Film mit Spezialeffekten. Das kann das Kino besser. Wir wollen mit einfachen Mitteln grosse Gefühle erzeugen. Das ist, was Theater ausmacht. Es passiert hier, konkret, sichtbar – und es passiert jetzt, vor den Zuschauern. Sie sollen sofort verstehen. Es fühlen. Es erleben.
Wir reden und reden und reden … und spüren die Möglichkeit des Scheiterns. Vielleicht lässt sich genau unsere Spielvorlage nicht auf der Bühne realisieren. Vielleicht stellen wir uns Unmögliches vor. Wir sind in einer Sackgasse. Es geht nicht vorwärts und nicht rückwärts. Blockade. Erstarrung. Ich sage innerlich schon alle verkauften Vorstellungen ab. Gestehe mein Scheitern ein. Bin am Ende meiner künstlerischen Laufbahn. Das wars. Fertig, Schluss, Ende.
Irgendwann erzähle ich Michael, dass es in der Schweiz Bauernhäuser gibt, die im Schlafzimmer eine kleine Luke in der Zimmerdecke haben. Wenn jemand stirbt, wird der Schieber gezogen, und die Seele des Verstorbenen kann durch das Loch hochfliegen. Das Seelentor. «S’Seeletörli».
Und dann flutscht es plötzlich. Eine Idee jagt die nächste: Hanna stirbt, fällt vor dem Spiegel auf den Boden, und ihre Seele fliegt im Spiegel hoch.
Uns beiden ist sofort klar, dass die geniale Idee gefunden ist. Nicht, weil es ein schönes Bild einer Himmelfahrt ist, sondern weil es mir Spielmöglichkeiten eröffnet. Die Idee ist dynamisch und nicht mehr statisch. Und der grosse Vorteil: Ich kann alles selbst spielen, die Protagonistin und auch ihre Antagonistin.
Auf der Bühne ist der «Körper», der nicht sterben will, und im Spiegel die «Seele», die wegfliegen und frei sein will. Beides ist da, unser Lebenswille und unsere Todessehnsucht. Die Erlösung und die Befreiung durch den Tod und das unbedingte Weiterlebenwollen. Die Seele ist frei, hat kein Kopfweh mehr, fliegt schwerelos – doch der Körper hängt an seinem Leben, auch wenn es beschwerlich und mühsam ist.
Wir denken uns mögliche Szenen aus. Wir müssen doppelt denken: Was will und macht der Körper, was die Seele? Es wird ab jetzt ein Zweierstück. Ein Duo, allein gespielt.
Was heisst das für unser Bühnenbild? Wir zeichnen und stellen uns alles Mögliche und Unmögliche vor. Wir entscheiden:
- Der Spiegel soll oval sein, wie ein Ei. Geburt und Tod sind Übergänge in einen anderen Zustand. Der Tod ist immer auch eine Geburt.
- Der Schneidertisch. Er muss gross und stabil genug sein, um darauf einen Totentanz zu tanzen. Es wäre schön, wenn sich eine Klappe öffnen könnte, die an eine Gruft erinnert, und ich darin verschwinden könnte. Der Tisch muss also mindestens so breit sein, wie ich gross bin. Es muss glaubhaft sein, dass sich der Grabdeckel öffnet. Mein anfänglicher Wunsch von einer leeren Bühne löst sich in Luft auf.
- Die Schneiderpuppe: Es wäre besser, es wären viele Puppen, dann könnten wir am Schluss ein Charivari, einen Totentanz, aufführen. Doch wenn mehrere Puppen herumstehen, stellt sich das Problem der Sichtbarkeit. Ein Teil des Publikums sieht mich nicht, wenn ich hinter den Schneiderpuppen agiere. Und ich habe keinen Platz zum Spielen. Man müsste die Puppen aufhängen können, und zwar so, dass sie im Kreise drehen könnten. Die Puppen könnten Kleider tragen, würden ausgezogen und vielleicht sogar zu Skeletten werden?
Was im Moment, als die Spiegelidee auftaucht, sofort klar ist: Ich werde einen zweiten Tourneetechniker engagieren müssen. Es ist also eine kostspielige Idee. Aber sie ist so zwingend, dass ich ihr alles unterordne.
Wir suchen jemanden für Computeranimation und Computergrafik, der künstlerisch passt, und engagieren Andreas Dihm.
Zufrieden gehen wir nach Hause. Mit der Idee, dass die Seele im Spiegel hochfliegt, ist das Stück geknackt – davon sind wir überzeugt. Wir brauchen keine weitere Symbolik mehr, weder Kreuz noch Totengebeine.